An der Langen Gasse stand bis zum Bombenangriff am 9. April 1945 das Wohn- und Geschäftshaus von Otto Reis, geb. 25. 5. 1889 in Niederstetten.
Reis wanderte 1940 in die USA aus.

Am 25 März 1950 stellte Rechtsbeistand Berthold Wolf, Ulm an die Landesbezirksstelle für die Wiedergutmachung in Stuttgart im Auftrag von Reis einen Antrag aufgrund des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts. Die Entschädigungsakte Reis ist umfangreich und befindet sich heute im Staatsarchiv Ludwigsburg (StAL EL 350 I_Bü 60338). Soweit meine Zeit reicht, soll auf dieser Seite der Entschädigungsvorgang nachgezeichnet werden. Der jeweilige Bearbeitungsstand wird am Ende der Seite vermerkt.

Rechtsbeistand Berthold Wolf, Helfer in Steuersachen, Treuhänder, Ulm, 25. 3. 1950, an Landesbezirksstelle für die Wiedergutmachung, Stuttgart
erstattet Anmeldung auf Grund des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts:
Angaben zur Person des Antragstellers: Otto Reis, geb. 25. 5. 1889 in Niederstetten, wiederverheiratet, 1 Kind, geb. 1947. Staatsangehörigkeit seit Februar 1946 USA. Erlernter Beruf: Kaufmann, ausgeübter Beruf: Weinhändler, gegenwärtige Anschrift: 3431 North Bouvierstreet, Philadelphia 40 Pa.
Zeitpunkt der Auswanderung: 10. 8. 1940
Grund der Verfolgung: Rasse
Art und Höhe des Einkommens vor Beginn der Verfolgungsmaßnahmen: RM 10000.– im Jahr
Weitere Angaben zur Person, wenn Antragsteller und Verfolgter nicht identisch sind:
Mina Reis geb. Feuchtwanger (Ehefrau des Antragstellers), geb. 23. 9. 08 in Schwabach/Mfr.
daneben die Schwestern Frida Reis, geb. 16. 5. 1894 in Niederstetten, und Henriette Reis, geb. 18. 1. 1900 in Niederstetten
Zahl der Kinder: 3, Geburtsjahre: 1930/1932/1936
Todestag: 28. 3. 1942
Todesursache: "erschossen"
Verwandtschaftsverhältnisse zum Verfolgten: Gatte und Bruder
Beginn der Verfolgung: 1933
Urheber der Verfolgung: NSDAP
Art der Freiheitsentziehung: Der Ast. [Antragsteller] war vom 9. 11. 1939 bis zum 17. 11. 39 in Bad Mergentheim, in Ellwangen und in Stuttgart in Haft.
Schaden am Vermögen:
1. Der Antragsteller leistete eine Gold- und Silber-Abgabe
2. Am 19. 1. 1944 zog das Finanzamt Bad Mergentheim eine Grundschuld in Höhe von RM 1000.–, die auf dem Grundstück des Johannes Füllmann in Neuhausen/Filter/Krs. Esslingen lag, zu Gunsten des Reiches ein.
3. Das Grundstück des Antragstellers in Niederstetten war dem Antragsteller vom 1. 1. 42 an entzogen, wobei er bis zu dessen Auflassung am 11. 2. 44 einen Mietausfall in noch nicht festgestellt der Höhe erlitt.
4. Frida Reis hatte ein Konto bei der Kreissparkasse Bad Mergentheim, das am 17. 12 41 eingezogen wurde. Die Höhe ist unbekannt (wird nachgereicht). Am 19. 12. 41 wurde das Konto der Frida Reis bei der Volksbank Gerabronn Fil. Bad Mergentheim auf Grund der Anordnung des Finanzamts Bad Mergentheim eingezogen. Höhe des Kontos RM 3228.30
Sonderabgaben: Der Antragsteller leistete eine Judenvermögensabgabe in Höhe von RM 3000.– an das Finanzamt Bad Mergentheim.
Schaden im wirtschaftlichen Fortkommen: Weingroßhändler, selbstständig bis 1938
Zeitpunkt und Art der Schädigung: Schließung des Geschäfts im Jahre 1938 auf Grund der allgemeinen Bestimmungen gegen die Juden
Höhe des Schadens: ca RM 10 000.–, eingehende Begründung wird nachgereicht.
Benachteiligung auf dem Gebiet der Sozialversicherung oder der privaten Versicherung: Der Antragsteller hatte eine Lebensversicherung in Höhe von RM 10 000.– abgeschlossen, die er zurückkaufen musste. Höhe des Schadens, seine Begründung und Einzelheiten werden nachgebracht.
Rückerstattungsansprüche: Rest U 315 und 918, ruht
Ich stelle den Antrag
1. Rückerstattung der auferlegten Sonderabgaben gem. § 19 in Höhe von RM 3000.–
Wiederherstellung des Zustandes, der ohne das zur Wiedergutmachung verpflichtende Ereignis bestehen würde, bezw Ersatz des Vermögensschadens die noch unbekannter Höhe.
3. Ersatz des finanziellen Schadens für die Verluste in den Jahren 1933 - 1940 in Höhe von ca RM 10 000.–
4. Gem. § 37 Wiederherstellung der Versicherungsberechtigung bezw. Ersatz des Schadens die noch nachzuweisender Höhe.
5. Für die erlittene Freiheitsberaubung eine Haftentschädigung in festzusetzender Höhe.
[Unterschrift Rechtsbeistand]

Brief Fr. Emmert, Weinhandlung, Niederstetten, 21. Dezember 1955 an Berthold Wolf, Ulm
[…] Die Vorfahren des Herrn Otto Reis sind vor über 100 Jahren hier zugezogen und gründeten s-Zt. einen Wein- und Spirituosen-Handel. Ich selbst kenne dem Betrieb natürlich erst seit der Jahrhundertwende. Schon damals war das Unternehmen eines der bedeutesten der Branche für unsre Gegend. In den 20er Jahren übernahm der Sohn Otto Reis nach dem Tode seines Vaters Emil Reis die Firma Julius Reis, Wein & Spiritousengrosshandlung. Herr Otto Reis, ein tüchtiger Kaufmann und vor allem ein reeller Geschäftsmann seiner Branche, führte den Betrieb, unterstützt von seiner Frau und den 2 unverheirateten Schwestern, in vorbildlicher Weise weiter. Die Firma verfügte über ein grosses Geschäftshaus, Bürogebäude und. außer dem Hauskeller, noch über 4 weitere Kelleräume nebst Fasslagerhalle. Das bis zur sogenannte Machtübernahme sehr gut florierende Geschäft, wurde im Dezember 1938 von höherer Warte aus stillgelegt. Im übrigen wurde der gesamte Betrieb am 9. April 1945, neben vielen anderen Gebäuden, restlos durch amerik. Bomber zerstört. […]
StAL EL 350 I_Bü 60338 /97

Bürgermeisteramt Niederstetten, 27. Dez. 1955.
Es wird bestätigt, daß Emil Reis, geb. am 12. Sept. 1857 vom Jahr 1888 bis zu seinem Tode am 10. Mai 1924 hier eine Weinhandlung betrieben hat. Nach dem Tode des Emil Reis hat seine Frau Berta geborene Hamburger das Geschäft weitergeführt. Frau Reis Wte. ist am 25. März 1935 verstorben. Otto Reis, geb. am 25. Mai 1889 hat bis zu seiner Auswanderung nach Amerika hier ebenfalls eine Weinhandlung betrieben. Wann Otto Reis die Weinhandlung seines Vaters bzw. seiner Mutter übernommen hat, kann hier nicht mehr festgestellt werden. Es kann angenommen werden, daß sich Otto Reis vor seiner Eheschließung, (am 28. Okt. 1929) ebenfalls als Weinhändler betätigt hat, Ob Emil Reis neben der Weinhandlung früher eine Branntweinbrennerei hatte, ist hier, nicht bekannt.
StAL EL 350 I_Bü 60338 /98

Stand: 17. 4. 2023