Niederstetten, 25. April Die meisten Menschen sind der Meinung, daß die Ehre ein durchaus untadelbarer Begriff sei, Da sehen wir Hermann Sudermanns 4aktiges Schauspiel und wir werden durch eine ungekünstelte lebenswahre Handlung davon überzeugt, daß die Ehre nichts Feststehendes, Unabänderliches sei, wir sehen, daß äußere Verhältnisse, Berufsstellung, unser Schicksal jeweils in dem Menschen einen anderen Begriff Ehre gestalten, Dieses Schauspiel brachte gestern der Turnverein in der Turnhalle vor einer sehr zahlreichen Zuhörerschaft zur Aufführung. Es war ein großes Wagnis, den Sprung von den üblichen Vereinsschwänken zu einem modern-realistischen Schauspiel zu machen. Manche Leute schreckte schon der Name Sudermann, das paßt nicht für uns. das ist zu frei und solche, die glauben geistig ganz hoch zu stehen, die prophezeiten, das versteht hier niemand. Aber alle Schwarzseher hatten Unrecht. Denn Sudermann zeigt sich als feiner Menschenkenner, welcher tief in die edlen und unedlen Regungen der menschlichen Seele hineinleuchtet und jeder, dem das Leben nicht fremd ist, versteht Sudermann. So ist der gestrige Abend für das Stück und. die Darsteller ein großer Erfolg geworden. Mit großem Verständnis waren die Rollen verteilt worden und die Darsteller hatten sich in dieselben hineingelebt. Das Spiel war natürlich und gerade dadurch schauspielerisch herverragend. Mit wachsendem Erstaunen sahen und hörten wir, welche gute Talente wir unter uns haben. Die Palme des Abends gebührt ohne Zweifel Frau Fexer, welche sowohl als Frau Kommerzienrat Mühlingk als auch als Frau Heinicke zeigte, wie sie geistig u. schauspielerisch ihre Aufgabe glänzend beherrschte. Nicht minder vorzüglich gaben Herr Fexer den Robert Heinicke, Herr Knenlein den Grafen Trost, Herr Nils den Kurt Mühlingk, Herr Wallrauch den Heinicke und Herr Dod den Kommerzienrat. Und ebenso glänzende Wiedergabe fanden die Rollen der Alma durch Frl. Seybold und der Leonore durch Frl. Wallrauch. Selbst die Darsteller der Nebenrollen (Frl. Nörr und Herren Nicklas, Glaser, Schmidt, Rupp) fanden eine auf das sorgfältigste durchdachte Wiedergabe. Die Maskengebung der Darsteller und die Ausstattung der Bühne – alles war zu loben –. Der außerordentlich starke Beifallssturm legte sich nicht eher bis alle Darsteller sich noch einmal auf der Bühne zeigten. Die gestrige Aufführung des Turnvereins war eine befreiende Tat für eine so klein, nur an das herkömmliche gewöhnte Stadt. Gewiß – nicht immer ist Zeit u. Gelegenheit, das große Schauspiel hier sprechen zu lassen. Aber wir hoffen doch, daß der große Erfolg des Abends den Turnverein veranlassen wird, nicht stehen zu bleiben, sondern daß: er neben der Pflege des Körpers auch die Aufgabe erfassen wird, dem Geiste vom Geiste Hohes und Schönes zu bieten.

Vaterlandsfreund, 27. 4. 1926