Spruchkammer Mergentheim
Den 15. 6. 1948
Aktenzeichen: 33/32/909
Spruch
Aufgrund des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 erläßt die Spruchkammer, bestehend aus
1. dem Vorsitzenden: Dr. Martha Schneider Bad Mergentheim
2. den Beisitzern: Otto Sarembe, Bad Mergentheim, Paul Sachse, Bad Mergentheim
gegen Karl Weber, ehem. Bürgermeister, 20. 3 03, Niederstetten, am alten Berg 362 – vertreten durch R.A. Tierley, Crailsheim – aufgrund der mündlichen Verhandlung –
Spruch:
1. Der Betroffene ist Mitläufer.
2. Er hat einen einmaligen Sühnebetrag von 500.– RM zu einem Wiedergutmachungsfond zu zahlen.
Wenn dieser Betrag nicht beigetrieben werden kann, so tritt an die Stelle von je RM 25.– ein Tag Arbeitsleistung.
3. Die Kosten des Verfahrens trägt der Betroffene.
4. Streitwert: 5579. – RM
Begründung:
Der Betroffene ist geprüfter Verwaltungsfachmann des mittleren gehobenen Verwaltungsdienstes und war von 1937 bis 1945 Bürgermeister von Niederstetten, nachdem er vorher in Adelberg von 1929 bis 1937 auch Bürgermeister gewesen war. Er ist verheiratet und hat 3 Kinder im Alter von 9, 11 u.17 Jahren. Er besitzt ein Haus im Einheitswert von 11700.– RM sowie Spar- und Giro-Gelder in Höhe von 135.– RM. Als höchstes steuerpflichtiges Einkommen für die Jahre 1932, 34, 38, 43 u. 45 hat er das von 1943 mit RM 5579.– angegeben. Nach seiner Suspendierung vom Bürgermeisteramt hat der Betroffene auf Ersuchen des Landratsamtes ehrenamtlich ohne Entlohnung und auch Erstattung von Auslagen die zerstörten Gemeindeakten von Niederstetten und 9 weiteren Gemeinden des Kreises rekonstruiert, sein fachliches Können als Ratsschreiber in den Dienst seiner Gemeinde gestellt und für 16 Gemeinden die Verwaltungsaktuariatsgeschäfte durchgeführt. Nach Abschluss dieser Arbeiten war er mit Holzhauen und Pflanzensetzen im Wald beschäftigt, wurde dann aber wieder zu Verwaltungsarbeiten im Rathaus herangezogen. Seit derzeitiges Einkommen beträgt einschließlich Trennungsgeld etwa 60.– RM in der Woche. Durch Volltreffer hatte der Betroffene an seinem Haus einen Schaden von RM 1500.–.
Der Betroffene hat der NSDAP von 1933 bis 1945 angehört und war von 1933 bis 1937 Ortspropagandaleiter. Nach Bl. 1/8 seiner Personalakte war er auch Organisations- u.  stellvertretender Ortsgruppenleiter. Er hat der NSV von 1934 bis 1945 angehört und war von 1934 bis 1937 und von 1938 bis 1944 NS-Ortsamtsleiter. Ferner war der Betroffene von 1929 bis 1937 in Adelberg und von 1937 bis 1945 in Niederstetten Bürgermeister und nicht belastend Mitglied des RDB, des NSRL des RLB und des NS-Kriegerbundes. Wegen seiner Parteiämter, seiner Parteimitgliedschaft, seines NSV-Amtes sowie als Bürgermeister fällt der Betroffene unter die Abschnitte D, II, I u. 4, F, II, 2 u. K, II, 8 der Gesetzesanlage A und ist daher nach Art. 10 bis zur Widerlegung als Belasteter anzusehen.
In der Klageschrift ist die Einstufung des Betroffenen als Belasteter beantragt. Er habe sich in Adelberg mit aller Energie für die NSDAP und ihre Ziele eingesetzt, besonders für die NSV die Spenden in die Höhe getrieben. Er habe dort den berüchtigten Ortsgruppenleiter Stähle unterstützt und in einer Aktion der Partei gegen den Forstmeister Bürklen eine führende Rolle gespielt. In Niederstetten habe er den Zeugen Nörr wegen dessen ablehnender Haltung der Partei gegenüber gedrückt und ein Ernteurlaubsgesuch für dessen Sohn gefälscht. Er habe ferner die Vergebung von Gemeindeaufträgen von der Mitgliedschaft zur NSV abhängig gemacht und sich möglicherweise durch den Erwerb von jüdischem Eigentum einen Vorteil verschafft. Er sei auch bei Verkaufsverhandlungen von jüdischen Friedhöfen beteiligt gewesen, und es sei auffallend, dass der Betroffene, der mit nichts nach Niederstetten gekommen wäre, ein Haus für 9-11. 000.– RM gekauft hätte, obwohl es 26000.– RM wert gewesen wäre.
In der mündlichen Verhandlung sind 7 Zeugen vernommen und mehrere Urkunden verlesen worden. Der öffentliche Kläger und der Verteidiger haben die Einreihung des Betroffenen in die Gruppe der Mitläufer beantragt. Ersterer hat eine Sühne von 1000.– RM beantragt, während diese in das Ermessen der Kammer gestellt hat.
Der Betroffene erklärt, nicht stellvertretender Ortsgruppenleiter und Organisationsleiter gewesen zu sein. Er habe das in der Stammliste auf Bl. 1/seiner Personalakte im Juli 1937 nur angegeben, um seiner Bewerbung für Niederstetten etwas Nachdruck zu verleihen, weil er wegen der Differenzen mit den Parteistellen in Adelberg unbedingt von dort weg gewollt hätte. Dieses Vorbringen des Betroffenen wird durch die Aussagen der Zeugen Daiber und Herb und durch das schriftliche Zeugnis des früheren Ortsgruppenleiters Breitling auf Bl. 56 d. A. bestätigt. Nach den Bekundungen der Zeugen Daiber und Herb ist der Betroffene in Adelberg kein Aktivist gewesen. Er habe vielmehr eine gewisse Resistenz geübt. Er sei als Bürgermeister zur Partei gegangen, um sich als solcher im Interesse seiner Gemeinde den Parteistellen gegenüber besser behaupten zu können. Den einzigen nicht der Partei angehörenden Gemeinderat, den Vater des Zeugen Daiber, habe er, als dieser altershalber ausscheiden wollte, wiederholt in seinem Haus aufgesucht, um ihn zum Verbleib im Gemeinderat zu bewegen, denn er hätte doch, wenn er auch nicht in der Partei wäre, das Vertrauen der Bürgerschaft. Diesen Zeugen ist auch nichts von einem besonderen Werben für die NSV seitens des Betroffenen bekannt geworden. Er hätte das Reinreden der Partei in seine Verwaltungsarbeit als Bürgermeister abgelehnt und habe deshalb mit den örtlichen Parteifunktionären nicht gut gestanden. Die von dem in der mündlichen Verhandlung nicht erschienenen Zeugen Bürglen im Vorverfahren vorgebrachte Anschuldigung, der Betroffene hätte die Absetzung des Stützpunktleiters Breitling zugunsten des berüchtigten nachmaligen Ortsgruppenleiter Stähle betrieben und diesen dann tatkräftig unterstützt, wird durch die Aussagen der Zeugen Herb und Daiber sowie das Zeugnis des Fritz Steinbuch auf Bl. 57 d. A. widerlegt. Hiernach hat zwischen dem Betroffenen und Stähle überhaupt kein gutes, sondern ein schlechtes Verhältnis bestanden, und Breitling hat wegen vom Landratsamt festgestellter und an die Kreisleitung weiter Berichte der ehrenrührige Handlungen zurücktreten müssen. Auch die von Bürglen, ohne selbst irgendwelche Anhaltspunkte dafür zu haben, auf Bl. 24 d. A. geäußerte Vermutung, der Betroffene hätte als politischer Amtswalter und Bürgermeister sich an den gegen ihn gerichteten Aktionen beteiligt, kann nach der schriftlichen Bekundung des früheren Ortsbauernführers Seitzer auf Bl. 58 d. A. nicht richtig sein. Der Betroffene hat sich entgegen Bürglens Annahme für diesen eingesetzt, als gegen ihn vorgegangen werden sollte.
Dass bei der Wahl des Betroffenen zum Bürgermeister von Niederstetten politische Punkte maßgebend oder auch nur mitbestimmend gewesen wären, hat nicht festgestellt werden können. Der Zeuge Ossiander, der einer Kommission von Gemeinderäten angehört hat, die vor der Bürgermeisterwahl in Adelberg zur Einziehung von Erkundigungen war, sagt aus, auf die Ausschreibung der Stelle im Staatsanzeiger wäre u. a. auch vom Betroffenen eine Bewerbung eingegangen, auf Grund der er in die engere Wahl gekommen sei. Die Kommission hätte in Adelberg sich nur für die fachliche und persönliche Eignung des Betroffenen für den Bürgermeisterposten interessiert. Die Kommission hätte da nur Leute aus der Bevölkerung gehört. Die Partei sei dabei ganz aus dem Spiel geblieben.
Die Aufforderung des Zeugen Färber zum Eintritt in die NSV als Voraussetzung für die Erteilung von Gemeindeaufträgen muss aus der damaligen Situation heraus verstanden werden und kann dann nicht mehr als Erfüllung eines Tatbestandes des Art. 7, I, 1-3 angesehen werden. Der Betroffene hat den Brief an den Zeugen nach seiner 1. Gemeinderatssitzung in Niederstetten geschrieben. Der Ortsgruppenleiter hatte verlangt, dass der Zeuge keine Gemeindeaufträge mehr bekomme, weil er nicht in der NSV wäre. Der Betroffene war damals mit den Verhältnissen in Niederstetten noch nicht vertraut, und um Weiterungen zu vermeiden, hat er den Zeugen zum Eintritt in die NSV aufgefordert. Der Zeuge Färber bekundet, trotz seines Nichteintretens in die NSV den Auftrag bekommen zu haben. Weitere Aufforderungen seitens des Betroffenen seien auch nicht mehr ergangen. Gemeindeaufträge habe er vor und während der Amtsführung des Betroffenen etwa gleichbleibend bekommen. Er hätte z. B. die ständige Überwachung der Dampfheizung im Rathaus und in der Schule gehabt. Nach der Aussage der Zeugen Melber und Osiander ist bei der Vergebung von Gemeindeaufträgen nicht die politische Einstellung, sondern die fachliche Leistungsfähigkeit der Lieferanten und Handwerker maßgebend gewesen. Der Betroffene hat den Zeugen Färber auch mit persönlichen Aufträgen bedacht. Als Ortsamtsleiter der NSV hat er weder in Adelberg noch in Niederstetten politischen Aktivismus entwickelt. Er hat als Bürgermeister guten Einblick in die sozialen Verhältnisse seiner Gemeinde gehabt und sein NS-Amt in rein caritativen Sinn aufgefasst und auch durchgeführt.
Für seine Behauptung, der Betroffene hätte ihn wegen politischer Gegnerschaft gedrückt und ein Urlaubsgesuch für seinen Sohn gefälscht, damit es keinen Erfolg hätte, hat der Zeugen Nörr keinerlei Unterlagen. Der Zeugen Melber, der als Ortsbauernführer den Fall kennt, sagt dagegen aus, das Urlaubsgesuch Nörr sei mit aller Vordringlichkeit behandelt und auch eingehend begründet worden, weil dem Betrieb doch ein rüstiger Betriebsführer gefehlt hätte. Hinsichtlich der Betriebsgröße hätte der Betroffene kaum eine Änderung vorgenommen. Eine Fälschung des Antrages bei der Angabe der Arbeitsfähigkeit des Zeugen Nörr durch den Betroffenen sei schon deshalb ausgeschlossen, weil die ärztlichen Gutachten stets den Gesuchen beigeheftet worden und mit diesen zum WBK gegangen wären. Eine Fälschung in der von Nörr bezeichneten Art hätte sich dort sofort herausgestellt. Im übrigen hätte der Betroffene bei uk-Stellungs-, Urlaubs- und Entlassungsgesuchen niemals nach der Parteizugehörigkeit gefragt, sondern allein die Dringlichkeit für die Betriebe maßgebend sein lassen. Das wird dem Betroffenen auch auf Bl. 61 d. A. von mehreren vom Gesetz nicht betroffenen Gemeindemitgliedern bestätigt.
Dass sich der Betroffene durch Erwerb jüdischen Eigentums einen Vorteil verschafft hätte, trifft nicht zu. Er hat für sich und die Gemeinde einige kleine Stücke erworben, und wie aus Bl. 63 d. A. hervorgeht, sich damals bemüht, den Wert der Gegenstände zu erfahren, hat diesen auch feststellen können und den höchstmöglichen Preis von 70 % des Neuwertes für die Sachen an das Finanzamt bezahlt.
Die Herleitung einer politischen Belastung des Betroffenen aus der Tatsache, dass er nach Bl. 23 d. A. der Reichsvereinigung der Juden für das Grundstück des Friedhofs wegen der Kosten für das erforderliche Wegräumen der alten Grabsteine und die Entfernung der Ummauerung für den für das Grundstück als solches niedrigen Preis von 300.– RM geboten hat, ist nicht möglich. Die Kammer ist der Meinung, dass der Betroffene hier nur von sachlichen Gesichtspunkten geleitet war. Er hat die Vereinigung der Juden nicht schädigen wollen. In Anbetracht der zur Nutzbarmachung des Grundstücks erforderlichen Arbeiten war es ihm im Interesse der von ihm zu vertretenden Gemeinde nicht möglich, einen höheren Preis anzulegen. Dass der Betroffene bestrebt war, die Juden finanziell nicht zu schädigen, geht klar aus der schriftlichen Bekundung des Stadtpflegers Pflüger auf Bl. 73 d. A. hervor, wonach der Betroffene nach Aufforderung der Aufsichtsbehörden zur Aufhebung der jüdischen Stiftungen wohl der Form halber im Gemeinderat einen diesbezüglichen Beschluss gefasst, aber entgegen diesem dafür gesorgt hat, dass die jüdischen Stiftungen nach Name und Art unverändert stehen geblieben sind und die diesbezüglichen Sparbücher heute noch unangetastet vorliegen. In mehreren schriftlichen Zeugnissen wird über den Betroffenen ausgesagt, er sei den Juden gegenüber nicht nur tolerant gewesen, sondern hätte sie in ihrer schwierigen Lage während des NS in hervorragender Weise unterstützt, so dass sie ihm bei ihrem Weggehen noch gedankt hätten. Er hat die Synagoge in Niederstetten geschützt, indem er sie versiegelt und in den Schutz der Gemeinde gestellt hat. Bei dem Abtransport der Juden ist er noch mit auf den Bahnhof gegangen, um nach dem Rechten zu sehen.
Bei dem Haus, dass der Betroffene erworben hat, handelt es sich nicht um früheres jüdisches Eigentum. Es ist durch die Zeugenaussagen in der mündlichen Verhandlung und die vielen schriftlichen Bekundungen, besonders sein Dienstzeugnis auf Bl. 53 d. A., eine so saubere, unantastbare Amtsführung des Betroffenen festgestellt worden, dass die Kammer die Verdächtigung, der Betroffene hätte sich auf unrechtmäßige Weise durch Ausnutzung seiner Ämter oder seiner Parteimitgliedschaft die Mittel für den Kauf seines Hauses beschafft, für durchaus unbegründet und unberechtigt hält, zumal für diese Behauptung nicht die geringsten Anhaltspunkte vorhanden sind.
Die Beweisaufnahme hat überhaupt ergeben, dass sich der Betroffene trotz der innegehabtem Ämter und seiner Parteimitgliedschaft soweit als irgend möglich von der Partei zurückgehalten und ihren Einfluss auf seine Amtsführung ausgeschaltet hat, weil er der Meinung war, dass die Kommunalverwaltung mit der Partei nichts zu tun habe. Er hat manche nationalsozialistisch beeinflussten behördlichen Anordnungen umgangen oder einfach ignoriert. Beim Zusammenbruch hat er ratlose Volkssturmführer unterrichtet, wie sie sich dem nutzlosen Endkampf entziehen können. Letzteres Treiben des Betroffenen war der Kreisleitung noch bekannt geworden, sodass sich der Betroffene dadurch in erheblicher Gefahr befunden hat. (Bl. 86 d. A.)
Der Betroffene hat am NS nur nominal teilgenommen und in allenfalls unwesentlich unterstützt. Er war daher als Mitläufer einzustufen. Die Kammer anerkennt besonders den sofortigen uneigennützigen Einsatz des Betroffenen nach dem Zusammenbruch. Im Hinblick auf diesen, das politische Gesamtverhalten des Betroffenen und seine wirtschaftlichen Möglichkeiten hat sie eine Sühne von RM 500.– für angemessen gehalten. Die Kosten des Verfahrens waren dem Betroffenen aufzuerlegen. Der Streitwert wurde nach § 2 der Gebührenordnung v. 4. 4. 46 festgestellt.
Dr. Schneider

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