* Niederstetten, 1. Dez. In gut besuchter Versammlung des evang. Volksbundes sprach am gestrigen Abend im Löwensaale die Deutschbaltin Frl. Sesemann über "Baltentum und Bolschewismus". Die Rednerin gab zunächst ein Bild über die geschichtliche Entwicklung des Baltenlandes unter besonderer Berücksichtigung der Deutschen, die dort seit 7 Jahrhunderten angesiedelt sind. In beredten Worten wußte Frl. Sesemann die selbst erlebte Leidens- und Schreckenszeit in den baltischen Provinzen zu schildern, die eigentlich nach der ersten russischen Revolution im Jahr 1904 ihren Anfang nahm. Bis dahin lebten die Balten ein beschauliches Leben, ohne soziale Unterschiede zu kennen oder sich politisch zu interessieren. Noch ein paar Jahre der Ruhe, bis der Weltkrieg den Fortgang der Schrecken brachte. Denn mit dem Ausbruch des Krieges wurde das Deutschtum mit Gewalt unterdrückt. Erst als im September 1917 die deutschen Truppen in Riga ihren Einzug hielten, konnten unsere Brüder und Schwestern auch dort, wie im benachbarten Kurland, Livland und Estland, frei atmen. Doch war diese Zeit der Freiheit von nicht allzu langer Dauer. Nach Abzug der deutschen Soldaten hielt der Bolschewismus in seiner schrecklichen Form in den nordischen Provinzen seinen Einzug. Verbannung, Gefängnis, Tod, das waren die Waffen, mit denen die bolschewistische Idee sich in einer Reihe von Jahren unter den Balten breit zu machen suchte. All das Grauenhafte, das sich dort abspielte, und wie es so ergreifend von der Rednerin dargestellt wurde, war ein Bild des Jammers und Elends. Bei all diesem Leid blieben die Balten in ihrem Herzen gutgläubige, treue Deutsche, deren geistiger Einstellung zum Leben schon seinerzeit als in Riga dem großen Theologen Herder ein Standbild mit der Sockel Inschrift "Licht, Liebe, Leben" erstellt wurde, zum Ausdruck kam. Im zweiten Teil des Vortrags kamen baltische Dichter zu Wort. Frl. Sesemann verstand es, durch ihren temperamentvollen Vortrag die Liebe zur Heimat, zur Natur und Scholle, die die Balten in so schöner Sprache aus ihren Gedichten erklingen lassen, ihren Zuhörern in wärmste Nähe zu rücken. Der Kirchenchor umrahmte den Abend mit entsprechenden Liedern. Unter Worten des Dankes schloß Herr Stadtpfarrer Hahn, nachdem ein Weihnachtslied und "Deutschland, Deutschland über alles" verklungen war, die Versammlung.

Vaterlandsfreund, 3. 12. 1927