( ) Niederstetten, 16. Nov. Die Mode breitet sich bekanntlich schneller aus als irgend eine Epidemie. In Hinsicht auf Epidemien ist diese Vorstellung Feststellung erfreulich – in Hinsicht auf die Mode wäre es oft erwünscht, ihr Bazillus wäre entdeckt und könnte bekämpft werden. Aber die Mode hüpft allen Nasenrümpfern auf den Nasen herum, sie ist so leichtfüßig, das weder mit leichtem noch mit schwerem Geschütz ein Kampf gegen sie erfolgreich ist. Gewöhnlich wird eine Modekrankheit durch eine andere (gewöhnlich schlimmere) aus dem Felde geschlagen. Es ist immerhin ein Glück, daß es noch nicht Mode geworden ist, daß die Damen sich ihre Fingerspitzen abschneiden lassen, sondern nur ihre Haare zum Opfer bringen. Pagenköpfe und Bubiköpfe verwirren heute die Köpfe aller Jungferchen, welche noch keinen Bubi- oder Pagenkopf haben. Und das blonde Gretchen in Faust wird bald ihre Zöpfe opfern müssen. (Man gibt ja auch "Hamlet" im Frack!) – Umso erfreulicher ist die Feststellung, daß es noch einen Ort gibt, wo die oben genannten Haarmoden noch keinen Eingang gefunden haben. Diese Stadt ohne Bubikopf ist Niederstetten. (Ich beeile mich, diese Zeilen zu schreiben, damit sie nicht inzwischen unwahr werden). In Niederstetten gibt es noch keinen Bubi- und keinen Pagenkopf. Es kann als Rückständigkeit gelten. Ich hoffe es nicht. Ich hoffe vielmehr, daß diese Zeilen unserem Fremdenverkehr dienen, daß von überall her Leute kommen, um die Stadt ohne Bubikopf zu sehen, daß die illustrierten Zeitungen und Filme an dieser Sehenswürdigkeit nicht vorbeigehen. Ja, ich möchte unseren Veranstaltern von Festlichkeiten der beginnenden Saison vorschlagen, in ihrer Rückständigkeit so weit zu gehen, auf dem nächsten Ball einen Preis für das schönste Frauenhaar auszusetzen. Wenn in diesem Fall ist Stillstand Fortschritt.

Vaterlandsfreund, 18. 11. 1925