Evang. Stadtpfarramt Niederstetten. Den 1. Mai 1945.

An das
Evang. Dekanatamt
Weikersheim.

Betr.: Bericht über die Kriegsereignisse in Niederstetten.

In Niederstetten herrschte die Meinung, der Krieg sei zu Ende, ehe die Front bis zu uns käme. In diese selbsttäuschende Meinung hinein kam alarmierend Ende März 1945 die Nachricht über das Herannahen der Front und zwar vom Odenwald her in die Gegend von Tauberbischofsheim und Würzburg. Bald hörte man von Kämpfen um Mergentheim und Edelfingen, später bei Althausen und Wachbach. Aber niemand wusste Genaues. Eins aber war nun klar. Wir hatten die Front zu erwarten und zunächst sah es so aus, dass sie von Mergentheim her das Vorbachtal heraufkäme, was bedeutet hätte, dass sie rasch über uns hinweggerollt wäre und wir hofften, ohne grosse Spuren zu hinterlassen.

Die 1. Einquartierung von Soldaten kam am Mittag des Karfreitag, den 30. März in unseren Ort. Sie waren aus der Gegend von Mosbach hierhergekommen, rückten aber fast unmittelbar nach ihrem Sicheinrichten wieder ab. Mitten in der Nacht kamen schon wieder andere und so in raschem Wechsel oft nur für Stunden immer neue, bis dann eine Div. Feldbäcker und Schlächterei einige Tage hier war, um dann auch ganz plötzlich weiterzugehen. Inzwischen war auf der Hauptstrasse ein ununterbrochener Strom von müden Soldaten ohne Ordnung, meist auch ohne Waffen, die im Richtung Rothenburg zogen. Das hielt den ganzen Ostersamstag an. Zwischen den Fussgängerı waren immer wieder bespannte kleine Trosswagen, selten Lastkraftwagen. Unter den Soldaten waren auch Volkssturmmänner aus der Pfalz und Rheinhessen und auch Jugendliche. Ein Bild des Jammers! Auf Befragen bekam man die Antwort, dass bis zum nächsten Tag die Amerikaner hier seien.

Das Osterfest und auch der Ostermontag verlief jedoch noch ohne Kampfhandlungen und so blieb es bis zum 4. April. Die einzige Aufregung dieser Tage war am Ostermontag, als die hiesige Elternschaft es nicht zuliess, dass die Jugendlichen weggeführt wurden und auch die Volkssturmmänner weigerten sich, Niederstetten angesichts der herannahenden Gefahr zu verlassen. In der Nacht vom 4. auf 5. April heulten ungefähr um 1/2 2 Uhr die 1. Granaten in unser Tal und krepierten mitten im Städtlein. Diese 1. Beschiessung dauerte bis gegen Morgen um 5 Uhr. Wir hatten nun einen Vorgeschmack dessen, was die nächsten Tage immer mehr brachten. Die amerik. Verbände waren auf der Kaiserstrasse hinter dem Eichhof. Der Vormarsch kam also nun nicht vom Norden her sondern von Westen. Das war für unser Städtlein ungünstig, denn nun bildete das Tal ein Hindernis, das die Kampfhandlungen langsam vorwärtsschreiten ließ. Vom 5.-8. April ging die Beschiessung durch Artillerie in unregelmässigen Abständen weiter. Der Schaden war aber noch nicht allzugross, da es noch nirgends brannte. Am Sonntagnachmittag den 8. kam die 1. Brandgranate und verursachte den Brand einer Scheune (Ldw. Rieger). Dieser konnte jedoch durch die Feuerwehr auf seinen Herd beschränkt werden. In dieser Zeit vom 5.-8. April hatten sich deutsche Batterien ins Vorbachtal hereingezogen und schossen von hier aus auf die Kaiserstrasse und in das westlich davon gelegene Gelände.

Die Front rückte von Tag zu Tag näher an das Städtchen im Vorbachtal heran, was an dem deutlicher hörbaren Maschinengewehrfeuer festgestellt werden konnte. Bis zum 8. April hatten sich die deutschen Soldaten bis auf das Wäldchen über dem Schloß Haltenbergstetten zurückgezogen und beim Schloss in der Nähe des Eisenbahntunnels verschanzten sie sich, um von dort aus die amerikanischen Panzerspähwagen, die die Strasse vom Eichhof her nach Niederstetten hereinführen, zu beschiessen. Das war das Verhängnis für Niederstetten. Die Panzerspähwagen fuhren wieder zurück und am Morgen des 9. April kamen amerikanische Jagdbomber wie herabstossende Raubvögel und warfen Spreng- und Brandbomben, so dass nach 3 maliger Wiederholung dieser Angriffe an diesem Tag der gegen das Schloss ansteigende Teil von Niederstetten, der eng zusammengebaut war, ein Raub der Flammen wurde. Nun zogen sich die wenigen deutschen Soldaten auf die gegenüberliegende östliche Talseite des Vorbachs zurück, den sog. Alten Berg.

Von hier aus kamen noch am 10. und 11. April immer wieder Gewehrschüsse und Maschinengewehrsalven, während die amerikanische Artillerie diese beiden Tage den ganzen Berghang bestrichen. In der Frühe des 11. April wurde Niederstetten zuerst von deutschen später von amerikanischen Spähtrupps durchstreift. Gegen Abend nahm die Zahl der Amerikaner, die vorsichtig die Keller und Häuser nach deutschen Soldaten durchsuchten, zu. Am 12. April kamen amerikanische Batterien ins Vorbachtal. Die Front war über Niederstetten hinweggerollt und es brannte noch an allen Ecken und Enden.

Die Zivilbevölkerung in Niederstetten hat in diesen Tagen allerhand zu durchleiden. Vom 4./5. April bis zum 12./13. war sie in beständiger Gefahr der Beschiessung ausgesetzt. Bis zum Morgen des 9. April waren die meisten Bewohner in den gewölbeten Hauskellern. Während und nach den Bombenangriffen am 9. April flüchteten die meisten Bewohner hinaus ins Tunnel, wo über 1000 Menschen schlecht versorgt bis zum 13. hausten, andere waren in einen alten Eiskeller gegangen am Alten Berg, wo sie entsetzlich unter Durst litten, da der Keller mit etwa 250 Menschen überfüllt war und nur Wermutwein zum Trinken vorhanden war. Wieder andere hielten sich in den Tagen nach dem Fliegerangriff in Wasserabzugsgräben unter der Bahnlinie und in kleinen Talklingen schlecht versorgt auf. In den Feuerpausen versuchten alle immer wieder ins Städtchen zurückzukehren, um sich neu zu verproviantieren. Besonders schwer waren diese Tage für die Mütter mit ihren kleinen Kindern, denen sie nicht immer frische und gute Nahrung beschaffen konnten und denen jede Pflege abging. Auch für die Alten und Kranken, die meist im Tunnel waren, sind es sehr harte Tage gewesen und manche starben wenige Tage darnach.

Als dann am 13. April endlich der Beschuss nachliess, konnte man den Schaden dieser Kriegsereignisse besehen. Er ist sehr gross. Die Hälfte unseres schönen Städtchens ist ein qualmender Trümmerhaufen geworden. Was noch stand, war zum grössten Teil schwerer oder leichter beschädigt. Insgesamt sind 80 Wohnhäuser, 40 Scheunen, 20 Viehställe, das Rathaus, das neue Schulhaus, das Lagerhaus, 4 grosse Gasthöfe und eine Mühle vollständig ausgebrannt, dazu die Synagoge.

Viel Vieh kam in den Flammen um, anderes hatte auf dem freien Feld Schaden durch Sprengstücke genommen. Allein im Lagerhaus sollen 16.000 Ztr. Getreide verbrannt sein ohne das, was auf den Bühnen der Bauernhäuser verdarb. Viele sonst erhaltene Gebäude wurden ausgeplündert. Ungefähr 400 Menschen wurden obdachlos und hatten zum Teil nicht mehr als was sie am Leibe trugen.

Besonders schmerzlich sind die Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung. Am 14. April wurden von mir, dem evangelischen Geistlichen, und dem kath. Stadtpfarrer in gemeinsamem Akt 13 Personen beerdigt. 2 weitere lagen noch unter den Trümmern, 2 Mädchen in Alter von 22 Jahren, die schwer verwundet nach Rothenburg gebracht worden waren, sind dort gestorben, wie wir später erfuhren.

Noch waren es aber nicht alle Opfer. Am Abend des 19. April gegen 10 Uhr erschien ein einzelnes Flugzeug und schoss mit Bordwaffen in die Gegend des noch immer brennenden Lagerhauses. Dabei erschrak eine Frau so sehr, dass sie einen Herzschlag erlitt. Am 27. April aber erfolgte nachmittags um 3 Uhr eine Explosion von gesammelter Munition beim Kelterplatz, wobei ausser einem amerikanischen Soldaten 2 Glieder unserer Gemeinde, die dabei beschäftigt waren, sofort getötet wurden, ein weiteres starb an nächsten Tag in Krankenhaus in Mergentheim an den Folgen der Verbrennungen. Schon in der Nacht der 1. Beschiessung hatte eine Frau vor Schreck einen Herzschlag erlitten.

Die Namen der Toten sind:
Frl. Marie Becker aus Essen / Frau Emma Jäger 35 J. / Erna Jäger 16 J. / Frau Marie Füg 57 J. / Herr Gg Rummler 69 J. / Frau Dowedeit aus Essen 36 J. / Herr Huppert aus Saarbrücken 56 J. / Herr Karl Rieger 52 J. / Erich Köhnlein 11 J./ Frau Sofie Fetzer 50 J. / Günter Ludwig 4 J. / Käthe Räuber 12 J. / Herr Otto Rebske 62 J. / Herr Wilhelm Schüler aus Saarbrücken 57 J. /Frau Barbara Herzog 64 J. / Emma Sinner 22 J. / Helene Schultz 22 J. / Herr Gottlob Schmidt 50 J. / Eugen Müller 25 J. / Hermann Müller 17 J.

Zu allem Überfluss an Schäden hin kam, dass von den abziehenden deutschen Soldaten die beiden Brücken über den Vorbach gesprengt wurden. Weitere Sprengungen der Turnhalle und der Molkerei konnten glücklicherweise nicht mehr durchgeführt werden, obwohl sie geplant und vorbereitet waren.

Von seiten der Besatzung hatte die Bevölkerung abgesehen von wenigen Exzessen betrunkener Soldaten nicht viel zu leiden. Dennoch ist die Lage der Bevölkerung im Ganzen eine sehr bedrückte, da es am Obdach fehlt und oft auch das Allernötigste fehlt. Es muss hier durch Nachbarschaftshilfe die grösste Not gelindert werden.

Die Kirche in Niederstetten sowie das Pfarrhaus sind wunderbar verschont geblieben von schwereren Schäden. Nur zertrümmerte Scheiben in grosser Zahl sind die Spuren dieses Ereignisses an ihnen. Auch die 10 köpfige Pfarrfamilie, die die schweren Tage im Keller des Pfarrhauses erlebte, blieb, Gott Lob, vor Schaden bewahrt, wie es ja auch der Grossteil der am Leben gebliebenen Niederstetter als Geschenk Gottes empfindet, dass sie weiterarbeiten und neu aufbauen darf. Es werden wohl mühsame und entsagungsreiche Tage kommen.

Die Gebäude, die völlig ausbrannten, sind folgende:
Das Rathaus, ein Holzfachwerkbau aus dem 16. Jahrhundert
Das neue Schulhaus, 1933 in eine mittelalterl. Zehntscheune gebaut
Das Lagerhaus mit eingebauter Mühle
die Frickenmühle
Die frühere Synagoge
das Gasthaus "Post" mit Scheune und Garage
das Gasthaus "Krone” mit Scheune, früherer Brauerei und Ställen
das Gasthaus "Adler” mit Scheunen und Ställen
das Gasthaus "Löwen" mit Wohn- und Wirtschaftsgebäuden
das Wolfsche und das Reissche Haus, beide alte Amtshäuser

Ferner Wohnhäuser und Scheuern Ställen von:
Jäger / Riger / Melber / Kleinhanss / Herz / Seybold / Thumm / Braun / Grupp / Streng / Bühler / Federolf / Griesser / Blumenstock / Thomas / Herz / Theurer / Kleinschrot / Ludwig / Stegmaier / Scharpf / Pflüger / Dürr / Busch / Nörr / Linder / Schätzle / Schmieg / Bauer / Wild / Linder / Friedrich / Linder / Weber / Brumm / Schumann / Hermann / Hofmann / Reiss / Jäger / Horn / Kettemann / Hütter / Geidel / Rathgeber / Zugenbühler / Leyrer / Kleinheinz / Stier / Hopf / Rummler / Klein / Baumer / Schmidt / Rupp / Wagner / Linder / Schumann / Dietz / Lehr / Kurtz / Eisenmann / Fischer / Rupp / Burkert / Hofmann / Küstner / Ruck / Bürklein / Hagelstein / Dertinger / Schürg / Metzger / Blumenstock / Kästle / Baumann / Nägele.

Die meisten Häuser brannten bis in den Keller, so dass ausser den Lebensmittelvorräten auch die dorthin gebrachten Wäsche- und Bekleidungsstücke ein Raub der Flammen wurde. Unter den genannten Gebäuden sind auch 3 Bäckereien, so dass selbst die Versorgung mit Brot nur unter grossen Schwierigkeiten möglich ist.

Trotz der beständigen Gefahr versammelte sich an allen in diesen Zeitraum fallenden Sonntagen eine kleinere Anzahl der Gemeindeglieder zum Gottesdienst. Am 15. April waren es eine grössere Anzahl. Die Gemeinde in der Not hatte trotz allem furchtbaren Erleben Gott zu danken für Gnädige Bewahrung vor dem Äussersten. An einem der folgenden Sonntage ergab das Opfer für die besonders schwer getroffenen Gemeindeglieder hier den Betrag von M 2.200.–, der zusammen mit den noch von andern Gemeinden zufließenden Betrag vom Kirchengemeinderat verteilt werden wird.

Es sind die schwersten Tage gewesen, die seit Menschengedenken über Niederstetten und seine Bewohner hereingebrochen waren. Nicht einmal im Jahr 1634, in der grössten Not des 30J. Krieges hat die Not solche Formen in Niederstetten angenommen. Damals waren die Stadtmauern genügend Schutz für die Bevölkerung. Nur die kurzen Pestzeiten‚ die es hier gab, forderten mehr Todesopfer als diese 10 Kriegstage.

EwGöltenboth StPfr.

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